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Endblick, das Ende der Primatenstation

Mein Buch soll über nichtmenschliche Primaten berichten. Die zahlreichen Beobachtungen, die ich während der Zeit in Gießen und Kassel an menschlichen Primaten durchführen durfte und musste, sind hier ausgespart. Insofern gebe ich auch meinen Bericht über das Ende der Primatenstation ohne diese Befunde an, diese sind gut dokumentiert, würden hier aber den Rahmen des Buches sprengen.
Ich persönlich bin überzeugt, dass ich die in Kapitel 1 gestellte Frage, inwieweit unsere Ergebnisse relevant sind, hinreichend beantwortet habe. Unsere Halbaffen und Affen zeigten unter mehr oder weniger identischen Haltungsbedingungen ihr angeborenes, ererbtes Verhalten, sie belegten somit durch ihr allgemeines Verhalten, keine optimalen Objekte zu sein, um das Theoriengebäude der Soziobiologie zu stützen, hier „versagten“ sie ebenso wie bei dem Verwandtenerkennen und dem Infantizid. Zumindest die von mir parallel untersuchten Arten verhielten sich so wie ihre Artgenossen im Freiland, wobei wir ihnen unter unseren Haltungsbedingungen freilich den harten Alltag, den sie im Freiland aushalten müssen, nicht bieten konnten. Es waren Erkenntnisse unter Luxusbedingungen ohne die Stressoren Feindvermeidung und Nahrungssuche und bei stark reduziertem Risiko, durch Auseinandersetzungen mit Artgenossen zu sterben.
Parallel zu den Beobachtungen war es mir in der Regel gelungen, blühende Zuchtkolonien der hier gehaltenen Arten zu etablieren. Unsere Haltungsbedingungen waren nach meinen Erfahrungen optimiert. Affen benötigen Klettermöglichkeiten, höher gelegene Rückzugsmöglichkeiten und zerstörbare Strukturen. Diese haben wir ihnen geboten. Ich weiß, dass der menschliche Betrachter es schöner findet, Affen hinter Glasscheiben auf scheinbar der Natur nachempfundenen Kunststoffbäumen zu beobachten, doch sehen solche Haltungsbedingungen nur schöner aus. Zu Beginn der Kasseler Primatenhaltung waren unsere Gehege geradezu Luxusbedingungen für Versuchstiere, im Laufe der Jahre änderten sich die Raumanforderungen, die für eine „artgerechte“ Haltung notwendig sein sollten, ständig, die Anforderung an die Gehegegröße wurde dem Zeitgeist entsprechend erheblich erhöht. Ich habe immer argumentiert, dass diese Anforderung angedacht sind für Individuen, die die Möglichkeiten haben müssen, sich vor den menschlichen Betrachtern zurückzuziehen. Da wir Menschen nicht die Gabe haben zu erkennen, dass wir selber eventuell Stressoren sind, verstanden dies auch einige meiner Studenten nicht und meinten, die „armen“ Tiere bräuchten mehr Platz.
Man muss sich immer vergegenwärtigen, dass es unter menschlicher Obhut keine Gehege geben kann, in denen Affen vor Artgenossen fliehen können, Affen sind schnell und spüren den Artgenossen stets mühelos auf, wollen sie diesen verdrängen. Die Emigration in Menschenobhut zu ermöglichen, ist auch unter optimalsten Raumangebot nicht möglich. Nur im Freiland können die Individuen auswandern, wenngleich meist in den Tod.
Tierhaltungsgegner sind selbst durch größte Gehege nicht zu überzeugen, dass es den gehaltenenen Tieren gut geht. Für mich waren die wichtigsten Kriterien immer Überleben und Reproduktion. Dabei ist die Nachzucht per se kein Nachweis hinreichender Haltungsbedingungen, es müssen schon mindestens so viele Individuen geboren und aufgezogen werden, dass die endliche Population der Ausgangspopulation entspricht. Dies habe ich in Kassel bei den meisten hier gehaltenen Arten erreicht. Neben den in diesem Buch besprochenen Arten habe ich (ab 1989) eine Kolonie des Buschbabies Galago moholi und (ab 1993) eine Kolonie des Mausmakis Microcebus murinus in Kassel etabliert. Diese Arten der etwa mausgroßen Halbaffen sollten dazu dienen, Fragen nach einer in der Literatur diskutierten ursprünglichen Ausgangsform der Primates durch sorgfältige vergleichende Beobachtungen zu beantworten. Bereits die ersten vergleichenden Beobachtungen erbrachten, dass diese Theorien niemals aufgestellt worden wären, hätten die entsprechenden Autoren beide Arten parallel gehalten. Wir haben bei diesen beiden Arten auch erste wichtige Ergebnisse zum Reproduktionsverhalten gewinnen können, doch habe ich in diesem Buch über diese noch nicht durch Langzeituntersuchungen gesicherten Erkenntnisse nicht berichtet, dies wäre zukünftigen Arbeiten vorbehalten gewesen.
Ende 1993 hatte ich jedenfalls in Kassel den Aufbau einer Primatenkolonie abgeschlossen, die optimale Voraussetzungen für zukünftigen Erkenntnisgewinn bot. Die etablierten Affenkolonien zeichneten sich zudem dadurch aus, dass von jedem Individuum die Vorgeschichte genauestens dokumentiert war (auch die Gründertiere der letztgenannten Halbaffenkolonien waren in Menschenobhut geboren). Durch meine Veröffentlichungen und Vorträge auf nationalen und internationalen Tagungen fand die Primatenstation national und international Beachtung. Insofern bekam ich regelmäßig Besuch von auswärtigen Kollegen, bzw. bot die Station auch Arbeitsmöglichkeiten für Gastforscher aus aller Welt. Nicht im Traum habe ich mir vorstellen können, dass diese Jahrzehnte lange Aufbauarbeit plötzlich enden würde.
Zum Verständnis der nachfolgend beschriebenen Vorgänge muss ich noch berichten, dass ich neben der Arbeit in der Primatenstation auch Tierschutzbeauftragter der Universität war. Zudem wurde ich als der nordhessische Vertreter in die Kommission nach §15 Tierschutzgesetz berufen, also in die Kommission, die alle in Nord- und Mittelhessen durchgeführten Tierversuche prüfen musste und entschied, ob diese Versuche ethisch vertretbar sind oder nicht. Nur die Genehmigung der Kommission gestattete das Durchführen von Tierversuchen. Die Mitglieder dieser ehrenamtlich arbeitenden Kommission hatten mich zu ihrem Vorsitzenden gewählt.
Zweifellos gibt es unterschiedliche Auffassungen zu Tierversuchen. Ich habe Tierversuchsgegner kennen gelernt, die - nach ihren Aussagen - lieber ein behindertes Kind bekommen würden als mit dem Wissen zu leben, dass für das Wohlergehen ihres Kindes ein Tierversuch unerlässlich wäre. Ich kann auch verstehen, dass es Menschen gibt, die es nicht schlimm finden, wenn Menschen anstatt von Tieren sterben, ich glaube aber, dass diese ausblenden, dass das sterbende Individuum sie selber, ihr Kind oder ihr Verwandter sein könnte. Ich jedenfalls bin Befürworter gut begründeter Tierversuche.1
Als angeblich Verantwortlicher von Tierversuchen und als Tierhalter bin ich dann - vom mir ungemerkt - Zielobjekt von Tierversuchsgegnern und Tierhaltungsgegnern geworden.2 Der Bund gehen den Mißbrauch der Tiere „schleuste“ einen ihrer Agitatoren, einen Biologiestudenten aus Kassel, in die Primatenstation ein.3 Dies war einfach, er musste nur eine von mir geleitete Veranstaltung besuchen, meine Studenten hatten immer freien Zugang zur Primatenstation. Dann benötigte ich einen Aushilfstierpfleger und dieser „mutige“ Agitator bot sich an und ich stellte ihn ein. Im Nachhinein brachte er große Opfer für seine Vorstellung von Tierwohl, er musste das „Leid“ in Menschenobhut gehaltener Tiere ertragen, überall gab es zudem nach seinem Empfinden unglückliche (von ihren Müttern und Vätern getragene) Affenkinder, im Dreck. (Ich hatte - wie bereits berichtet - angeordnet, dass unter keinen Umständen nach Geburten die Gehege gereinigt werden dürfen.) In der Futterküche saß zudem (nach seiner Beobachtung ohne tierärztliche Hilfe) ein kleiner verletzter Totenkopfaffe und wurde von mir und meiner Mitarbeiterin Klaiber-Schuh täglich seiner Meinung nach „gequält“. Dem Agitator war offensichtlich entgangen, dass Annette Klaiber-Schuh approbierte Tierärztin ist.
Leider machte er mich nicht auf die „Unzulänglichkeit“ meiner Haltung aufmerksam, tapfer heuchelte er Interesse an der Arbeit mit Primaten und bat auch um Literatur. Wie bei anderen Studenten auch, bot ich ihm an, meine Sonderdrucksammlung zu nutzen, die sich in meinem Arbeitszimmer befand. Am Ende des Wintersemesters flog ich dann mit Barbara Jantschke und einer großen Zahl von Studenten nach Brasilien zu einer Brasilien-Exkursion, wir wollten gemeinsam Affen im natürlichen Habitat beobachten. Der Agitator bat mich höflich, während meiner Abwesenheit weiterhin meine Separata nutzen zu können. Ich hatte keine Einwände. In meiner Abwesenheit schloss ihm Frau Klaiber-Schuh dann immer wieder mein Arbeitszimmer auf, damit er seinen Interessen an wissenschaftlichen Arbeiten nachgehen konnte. Der Agitator nutzte diese Zeit, um meine gesamten Unterlagen durchzusehen und um sich meine Bestandsbücher und die Veterinärbefunde zum Kopieren „auszuborgen“.
Glücklich zurück aus Brasilien und voller Tatendrang - ich hatte mehrere Kooperationen mit brasilianischen Kollegen vereinbart - nahm ich nach mehrwöchiger Abwesenheit meine Routinearbeit wieder auf. Während der nächsten Sitzung der Kommission nach §15 Tierschutzgesetz in Gießen rief mich dann der Kanzler der Universität Kassel an: Ilja Weiß, ein in Deutschland bekannter Demagoge, hätte in der Öffentlichkeit schwere Vorwürfe gegen mich und die Primatenstation erhoben - wir würden die Affen ungereinigt und zu eng unter skandalösen Bedingungen halten -, ständig riefen bei ihm Reporter und Fernsehteams an, er rate dringend zur Offenheit gegenüber den Medien. Ich teilte dem Kanzler meine Ankunftszeit mit und erklärte mich bereit, noch am Abend die Teams zu empfangen.
Die Filmer waren ziemlich entsetzt, sie hatten eine völlig verdreckte Haltung erwartet, was sie vorfanden war eine gepflegte und saubere Station. Ich wurde gefragt, ob ich heute die Station habe reinigen lassen, meine Einlassung, ich wäre in Gießen gewesen und könnte von dort aus unmöglich Reinigungsarbeiten veranlassen, fand nur bedingt Gehör. Sie forderten mich auf, hier und da eine Tür aufzuschließen, mit laufender Kamera drängten sie z. B. durch die Quarantäneschleuse und waren enttäuscht.4
Unabhängig von dem folgenden Presserummel wies ich und auch die Hochschule die Vorwürfe zurück. Damit hatte Ilja Weiß gerechnet und schob nun, Kampagne, 2. Teil, die Kopien meiner Bestandsbücher als Beweismaterial hinterher, 1000 tote Affen, so die Schlagzeile.5 Zudem - so der zweite Vorwurf - würde ich Handel betreiben6 und hätte sogar an Tierhändler Tiere abgegeben. Schließlich hätte ich Vertreter besonders geschützter Arten illegal eingeführt (dritter Vorwurf).
In einer vom AStA der Universität veranstalteten Podiumsdiskussion konnte ich nach meiner Einschätzung diese Vorwürfe entkräften, Todesfälle seien normale Ereignisse in jeder Tierhaltung. Züchtet man nicht erfolgreich, müsse man Tiere hinzukaufen, züchtet man aber erfolgreich, so müsse man sich von Tieren trennen, dabei sind natürlich auch Tierhändler, über die wir auch den Großteil unserer Gründertiere gekauft hätten, neben Kolleginnen und Kollegen verlässliche Partner.7
Danach ermittelte (auf Anzeige) der Staatsanwalt, die Veterinäraufsicht und die Hochschulverwaltung umfänglich. Ich konnte alle Einnahmen und Ausgaben belegen und alle Vorwürfe entkräften. Bei dem vermeintlich illegalen Schmuggel besonders geschützter Arten handelte es sich um die bereits erwähnten Mausmakis, für die alle Import- und Exportgenehmigungen vorlagen. Die engagierten Moskauer Tierpflegerinnen begleiteten ihre Tiere und nahmen sie mit in die Kabine, damit diesen nichts passiert. Am späten Abend in Frankfurt angekommen, passierten sie - bepackt mit lauter kleinen Käfigen - unkontrolliert den Zoll. Natürlich habe ich nicht die Mausmakis in die Frankfurter Quarantäne Station geschickt und eine amtsärztliche Kontrolle gefordert. Vielmehr bin ich mit diesen engagierten Tierpflegerinnen sofort nach Kassel gefahren, um die Mausmakis in den vorbereiteten Gehegen frei zu lassen und zu versorgen. Am nächsten Morgen stellte ich sie dann den Kasseler Veterinären vor, die in diesem Fall - in einem Zoo aufgewachsene Tiere - auf die Quarantäne verzichteten.
Insofern konnte ich alle gegen mich und meine Haltung gerichteten Vorwürfe zurückweisen. Als Vorwurf blieb „hängen“, die Station sei nur für 181 Affen gebaut, tatsächlich hielten wir über 300 Tiere. Dieser Vorwurf war eigentlich auch leicht zu entkräften. Die Leser meines Buches werden hoffentlich gelernt haben, dass Affe nicht gleich Affe ist. Je nach den Bedürfnissen der jeweiligen Species kann man mehr oder weniger Individuen gemeinsam halten. Ich verdeutlichte dies mit der „Krallenaffenseite“ der Primatenstation, hier hätten wir 37 Gehege zur Verfügung, in diesen könnten wir maximal 74 Tiere - dies waren auch meine Angaben bei der Raumplanung - halten, vermehrten sich diese, wäre genauso die Haltung 37 Familiengruppen vertretbar. Rein theoretisch - bei optimaler Reproduktion könnten diese Gruppen auf 10 Individuen anwachsen, also auf 370. Irgendwo zwischen 74 und 370 läge dann - je nach Haltungserfolg - der vertretbare Bestand.
Die Zahl 181 hatte historische Gründe. In den Anfangsjahren der Universität, die Universität Kassel hieß damals noch Gesamthochschule Kassel, wurden die Sachmittel für die einzelnen Arbeitsgruppen von einem Gründungsbeirat zugewiesen. Hier konnte man auch persönlich bei dem Haushaltausschuss des Gründungsbeirates besondere Bedürfnisse geltend machen. Der Leiter der Arbeitsgruppe Zoologie und vergleichende Anatomie, Prof. Dr. Werner Meinel, nutzte dies, um ab 1974 Geld für seine Affen zu erbitten. Erst sollten es 50, dann 100, schließlich 177 sein. Der Gründungsbeirat fühlte sich zunehmend erpresst und beschloss 1977, DM 40 000,00 ausschließlich für die Tierhaltung zur Verfügung zu stellen. Mehr Geld gebe es aber nicht, bei einer Forderung mehr Affen/mehr Geld würde mit Etatkürzungen geantwortet werden. Die Hälfte der Summe ging an die anderen Tiere haltenden Arbeitsgruppen, DM 20 000,00 blieben für die Primatenhaltung. Glücklicherweise war dieses Geld ausdrücklich nur für die Tierhaltung verwendbar, eine Umwidmung nicht möglich. Die sonstigen Gelder, die Sachmittel der Arbeitsgruppe waren Meinels „persönlicher Besitz“. Benötigte ich Geldmittel, bekam ich stets die Antwort, er würde es mir gerne zur Verfügung stellen, doch wäre kein Geld vorhanden. Dies störte mich nicht sehr, für die notwendigen Ausgaben nutzte ich private Mittel, so auch für die Kosten des Telefonierens. (Das Telefonieren war dem Arbeitsgruppenleiter vorbehalten.) Während alle anderen Arbeitsgruppenmitglieder jedes Telefongespräch rechtfertigen mussten, in den Abrechnungen war die angerufene Nummer angegeben, durften meine Mitarbeiter ohne Rechtfertigung telefonieren und erhielten von mir auch die notwendigen Sachmittel gestellt. Auch die Defizite der Primatenhaltung trug ich privat bzw. warb hierfür Drittmittel ein. Dass wir mehr als 177 Primaten gehalten haben, war hochschulintern bekannt. In der Haushaltabteilung der Zentralverwaltung machte man - tauchte ich auf - Witze, ich könne nur bis 177 zählen. Da ich aber keine Geldforderung erhob, war dieses Unvermögen unproblematisch.
Auch bei dem Neubau der Primatenstation - die Station wurde geplant und gebaut, da sich von unserer Haltung aus Schaben auch in die Zentralen Werkstätten begaben, besonders zahlreich nach von uns durchgeführten Bekämpfungsaktionen - gab es die Vorgabe: Neubau ja, aber nur Ersatz der bisherigen Haltungsräume und nur für die begrenzte Anzahl von Tieren. Irgendwie kam dann bei der Bauplanung die Zahl 181 heraus. Die Station wurde also für 181 Affen gebaut. Die Begrenzung der Räumlichkeiten musste ebenfalls beachtet werden. Bei der Planung gibt es Hauptnutzflächen und Nebennutzflächen. Ich rechnete daher die mir bisher zur Verfügung stehenden Haltungsräume als Hauptnutzflächen und forderte für diese Ersatz. Die Flure vor den Gehegen hingegen wiesen wir als Nebennutzfläche aus, so dass im Neubau tatsächlich erheblich mehr Platz für unsere Primaten zur Verfügung stand. Dies störte auch keinen der Beteiligten.
Parallel zu den Ermittlungen der Behörden begannen innerhalb der Universität die Aktivitäten verschiedener Menschen zu wirken, auf die ich hier nicht im Einzelnen eingehen möchte, sie lassen sich mit der Leiter der Arbeitsgruppe, der aktuell amtierenden Dekan, der Fachbereich, der Kanzler der Universität (nebst Juristen seiner Verwaltung) und der Vater einer von mir abgelehnten Doktorandin (ein Hochschullehrer des Fachbereiches) hinreichend umschreiben.
Mein Verhältnis zum meinem „Duzfreund“, dem Arbeitsgruppenleiter, war - vorsichtig gesagt - problematisch. Meinel hielt sich für den bedeutensten der Kasseler Biologen. Die vergleichende anatomische Forschung wäre die Krone der zoologischen Wissenschaft, Verhaltensforschung hingegen war seiner Meinung nach keine Wissenschaft. Er warf mir in den Jahrzehnten der Zusammenarbeit immer wieder sozusagen „Knüppel zwischen die Beine“, ertrug es aber, wenn ich diese aus dem Wege räumte. Er schätzte es auch, Anordnungen zu geben, ertrug es aber, wurden diese nicht befolgt. Über diese Persönlichkeit zu berichten, muss daher einem Buch über menschliche Primaten vorbehalten bleiben. Aus der aktuellen Situation hielt er sich völlig raus, er war mein „Freund“, der mich vor Schlimmen bewahren wollte. Gleichzeitig war er der glaubwürdige Informant für den Dekan des Fachbereiches und den Kanzler der Universität, Werner Meinel konnte im Gespräch überzeugend wirken.
Der Dekan, ein Neuroethologe, der an Gehirnableitungen bei Erdkröten arbeitete, wollte mich „unterstützen“. Er hatte zwar die Primatenstation niemals betreten, wusste aber, dass dort Zustände herrschen, die abgestellt werden müssen.8 Zu meiner Unterstützung installierte er auch eine „ständige Primatenkommission“, der ich berichten sollte. Eines seiner wesentlichen Anliegen war, es düften keine Tiere mehr verkauft werden. In dieser Kommission konnte ich mein Vorgehen rechtfertigen, die Kommission unterstützte mich. Der Dekan löste daher die Kommission wieder auf und wandte sich direkt an den Fachbereichsrat.
Der Fachbereichsrat (mit Ausnahme der schon erwähnten Hochschullehrer) und auch die später gewählten Dekane waren ausgesprochen solidarisch und lehnten Maßnahmen gegen mich ab. Der Dekan trat von seinem Amt zurück. Doch war den Mitgliedern des Fachbereichsrates nicht zu vermitteln, warum ich eine so große Anzahl von Tieren benötigen würde. Er fasste auf Antrag eines Chemikers den Beschluss, ich sollte innerhalb von zwei Jahren die Zahl der Tiere auf 181 reduzieren. Erfolge die Reduktion nicht, würde die Station geschlossen. Mit diesem Beschluss konnte ich leben.
Die Universität hatte in der Zwischenzeit einen Vertrag mit den Wissenschaftsfeinden des Bundes gegen den Mißbrauch der Tiere geschlossen, dieser sollte die Kampagne gegen die Universität einstellen, im Gegenzug würde die Primatenstation bis 1999 geschlossen.9 Der Kanzler lud mich zu einem Dreiergespräch ein, der zurückgetretene Dekan war plötzlich wieder im Amt. In dem „Gespräch“ wurde mir jegliche Abgabe von Tieren untersagt, die Universität selber würde sich um die Abgabe kümmern.
Der Vater der abgelehnten Doktorandin schließlich sah am Horizont eine Stellenchance für seine arbeitslose Tochter.
Dies war also die Gemengelage, mit der ich mich auseinandersetzen musste. Die folgenden zwei Jahre waren nicht leicht. Ich wurde auch mehrmals vom Kanzler der Universität wegen Fehlverhaltens abgemahnt, konnte aber die Rücknahme der Abmahnungen gerichtlich erreichen. Gebannt warteten Fachbereich und Kanzler auf den Tag der Zählung, der Amtsveterinär wurde um Amtshilfe gebeten. Da Makaken und Kapuzineraffen trainiert waren, konnte das Zählen auch leicht erfolgen. In der Primatenstation lebten nur 181 Affen, der Fachbereichsrat war zufrieden und sah keine Veranlassung zum Handeln. Ich machte gegenüber der Aufsichtsbehörde auch keinen Versuch, den Weg der Reduktion zu verschweigen. Ich hatte alle Halbaffen (ca. 40) abgegeben (sie lebten nun in meinem Privathaus) und einige Affen (ebenfalls etwa 40) für ein Forschungsvorhaben entnommen.
Durch dieses Forschungsvorhaben wollten wir ergebnisoffen klären, welcher Zusammenhang zwischen Körper- und Organgewicht besteht. Hier fehlten verlässliche Daten. Wir wählten für diese Untersuchung bei den verschiedenen Arten vor allem altersschwache oder nicht reproduktive Individuen aus, bzw. trennten uns von einem Teil der in der Station gehaltenen Nachtaffen Aotus azarae boliviensis.
Da ich regelmäßig in der Vergangenheit Präparationsübungen für interessierte Studierende angeboten hatte, die vor allem an Schädelpräparationen interessiert waren, ließ ich zudem die Schädel für künftige Arbeiten einfrieren.


Abbildung 15.1: Beziehungen zwischen Körper- und Organgewicht bei Aotus azarae boliviensis

Zu meiner Überraschung war die Beziehung zwischen Köper- und Organgewicht exponential, was ich eigentlich nicht erwartet hätte. Bei fast allen Species erhoben wir - wegen der geringen Individuenzahl - nur vorläufige Befunde, die als Basisdaten für später zu erhebende Daten bei Sektionen verwendet werden sollten.10 Bei den Nachtaffen hatten wir mit zwanzig Individuen genügend Material, um unsere durch diese Untersuchung berechtigte Hypothese durch hinreichendes Datenmaterial zu stützen. Die Befunde sind eindeutig. Sie gelten unabhängig vom Alter und Geschlecht. Ich hatte vor, diese Ergebnisse nach weiteren Analysen zu publizieren, habe dies aber wegen der Umstände in Kassel nicht mehr durchgeführt. Mir fehlte auch die Motivation. Hier stelle ich diese vorläufigen Ergebnisse nun vor (Abbildung 15.1).
Dem Gewicht des Individuums käme danach wohl hohe Bedeutung zu, was für alle untersuchten Arten gezeigt werden konnte. Die Hypothese ist sicherlich nicht abwegig, dass diese Beziehung auch für uns Menschen gelten könnte, was dann bei Transplantationen z. B. meiner Meinung nach berücksichtigt werden müsste.
Der Kurvenverläufe waren bei den Totenkopfaffen Saimiri sciureus (4 Individuen) nahezu identisch mit denen von Aotus, diejenigen von den leichteren untersuchten Arten (Saguinus und Callimico) steiler und untereinander ähnlich.
Es gelang uns auch, eine exponentiale Beziehung - trotz nur sehr weniger Individuen - für den schwereren Kapuzineraffen Cebus apella aufzuzeigen. Bei den Kapuzineraffen konnten wir unsere an von in Menschenobhut gehaltenen Affen gewonnenen Daten (Abbildung 15.2, Cebus) mit denjenigen von Kühlhorn ([116]) an 14 Wildfängen vergleichen (Abbildung 15.2, CebusII), von denen fünf nach Kühlhorn verhungert waren. Der Kurvenverlauf ist trotz der erheblichen Streuung der Kühlhorn-Werte nahezu identisch. Die gefundene exponentiale Beziehung dürfte also auch für Cebus gesichert sein. Weitere Analysen der Daten konnte ich nicht mehr durchführen.
Einer möglichen Kritik an der Tötung gesunder Tiere - ich hatte bisher nur schwer kranke Tiere einschläfern lassen, meinte ich, entgegentreten zu können. In der Station wurden in der Vergangheit stets gesunde Tiere für die anatomischen Untersuchungen von Werner Meinel entnommen. Zudem hatte ich den „vernünftigen Grund“, der für das Töten der Tiere belegt werden muss, durch meine Ergebnisse glaubhaft gemacht.11



Abbildung 15.2: Beziehungen zwischen Körper- und Lebergewicht bei Cebus apella

Mit dieser Lösung der Vorgaben des Fachbereiches hatte der Kanzler nicht gerechnet, auch war dadurch seine Vertragstreue gegenüber dem Bund gegen den Mißbrauch der Tiere bedroht. Er wollte keine Lösung, er wollte den Schließungsbeschluss. Die Universität erteilte mir ein Hausverbot (um die restlichen „armen“ Tiere vor dem vermeintlichen Tod zu bewahren). Zudem kündigte sie mein Arbeitsverhältnis fristlos.12 Die Universität ging auch sofort an die Öffentlichkeit, so möglicher Kritik zuvorkommend. Als Ersatz für mich stand auch bereits die Tochter des bereits genannten Hochschullehrers bereit, sie war nun nicht mehr arbeitslos, sie wurde als Liquidatorin bezahlt.
Ich wehrte mich gegen die Kündigung und weitere Kündigungen, lernte viel über Wege der Rechtssprechung (verschiedene Kammern des Arbeitsgerichts, des Landesarbeitsgerichts, des Bundesarbeitsgerichts, des Bundesverfassungsgerichts und des Verwaltungsgerichts), gewann auch fast immer und erlangte immer wieder Zugang zur Primatenstation, wenngleich ich letztendlich verlor. Mit diesen Geschichten möchte ich aber nicht langweilen. Ich stelle nur noch ein Ereignis vor.13
Der bisher schrecklichste Tag in meinem Leben war ein Samstag im April 1997. Mehr oder weniger zufällig fuhr ich an der Primatenstation vorbei und wollte meine Affen besuchen. Der Zutritt wurde mir verwehrt, im Vorflur standen mit Handies bewaffnet der Justitiar der Universität, ein Mikrobiologe, der sich als Vollstrecker gefiel, und die besagte Tochter. Man hatte die Telefone der Station abgestellt, um einen Informationfluss an mich durch meine Mitarbeiter zu verhindern.14 An diesem Tag rollte dann zeitlich gut geplant ein Trupp nach dem anderen aus verschiedenen Zoos an, die für unsere Tiere fremden Menschen fingen sich meine Tiere selber ein. An diesem Tag wurden mir u. a. die Viktorgruppe, die Hoppedizgruppe, mehrere Springaffengruppen und meine Brüllaffen nach meinem Empfinden „geklaut“. Am Abend des selben Tages besuchte ich mit meiner Frau das Staatstheater - wir hatten ein Abonnement -. In der Reihe vor mir saß der Kanzler der Universität. Seit diesem Tag habe ich das Staatstheater nicht mehr betreten.

1Ich vermute, dass auch jeder Hundebesitzer Wert darauf legt, dass sein eigener Hund durch die Tollwutimpfung vor Tollwut geschützt ist und nicht bei Kontakt mit einem tollwutkranken Tier eingeschläfert werden muss. Die Zuverlässlichkeit des Impfstoffes muss freilich nachgewiesen werden, was nur durch sehr belastende - jedoch ethisch vertretbare - Tierversuche gelingt. Man muss im Tierversuch gesunde Hunde impfen bzw. nicht impfen (Kontrollgruppe). Anschließend werden alle Tiere mit dem Tollwuterreger infiziert. Der Wirkungsnachweis ist das Überleben aller geimpften Tiere. Die Kontrolltiere freilich erkranken an Tollwut und müssen, sobald die Erkrankung nachgewiesen ist, eingeschläfert werden. Erkranken sie aus irgendeinem Grund nicht, ist das gesamte Versuchsvorhaben gescheitert, die Versuche müssen wiederholt werden, den Experimentatoren muss ein Fehler bei dem Infizieren unterlaufen sein.

2Bis dahin hatte ich mich naiverweise selber - sicherlich unberechtigt - als Tierschützer gefühlt.

3Die Arbeit wurde gut bezahlt. Der mutige Student erhielt von der Universität ein Entgelt und war gleichzeitig als bezahlter Kampagne-Leiter eingestellt.

4Ich lernte in der Folgezeit auch, dass einige dieser Filmteams freiberuflich arbeiten, sie wollen nichts dokumentieren, sie wollen ihr Material verkaufen. Öffnete ich ihnen Gehegetüren, um die Affen besser filmen zu können, zogen solche Teams es vor, durch das doppelte Gitter (Vorderfront und Tür) zu filmen, die Affen wirkten so „eingesperrter“, das Bildmaterial war so auch verkaufbarer. Sie filmten auch gerne unsere Sicherheitsschlösser, an denen z. B. unsere Kapuzineraffen gerne manipulierten. Der Fernsehzuschauer konnte dies als Signal verstehen: „Wir wollen raus“.

5Wie bereits in diesem Buch mehrfach berichtet, hatte ich im Bestandsbuch auch alle bei uns tot geborenen und früh verstorbenen Jungtiere angegeben, zudem alle Todesfälle über mehr als zwei Jahrzehnte, so auch den Abgang der den Alterstod gestorbenen Individuen.

6In den Bestandsbüchern, die auch Kontrollbücher waren, war jeder Empfänger eines von uns abgegebenen Tieres dokumentiert.

7Für Ilja Weiß war sowohl die von mir praktizierte Abgabe an Privatleute als auch an andere Halter ein Verbrechen. Er glaubte auch - so gab er zumindest in einem Pressegespräch an -, im Freiland würden keine Jungtiere sterben. Mit welcher Begründung ein so Ahnungsloser zum Tierschutzbeauftragten des Landes Hessen aufsteigen konnte, ist mir unverständlich geblieben. Er nutzte jedenfalls den „Skandal“ in Kassel, um mir und seiner Nachfolgerin im Amt die schwersten Vorwürfe zu machen.

8Mir gegenüber äußerte er, „sollten Sie etwa behaupten, wir würden Sie nicht unterstützen, werden wir Sie verklagen.“.)

9Zum Schließen benötigte die Universität aber einen entsprechenden Beschluss des Fachbereichs.

10Bei den Sektionen wurden stets die Organe entnommen, leider aber nicht gewogen. In der Zukunft hätten wir nun auch - nach der Erhebung von Basisdaten an gesunden Tieren - eventuelle pathologische Veränderungen an den Organen verstorbener Tiere besser beurteilen können.

11Selbst wenn wir nicht diese überzeugenden Ergebnissen hätten vorlegen können, wäre die Fragestellung allein ein vernünftiger Grund gewesen.

12Ultimativ forderte mich der Kanzler auch auf, meine aus Privatmitteln angeschafften Halbaffen umgehend in die Primatenstation zurückzuführen, ich sollte die entwendeten Tiere an der Tür den Tierpflegerinnen übergeben.

13Nach meiner Entlassung hatte die Universität den Schließungsbeschluss mit „Zuckerbrot“ und „Peitsche“ erreicht, das Zuckerbrot: der Fachbereich könne über die bisher gebundenen Mittel für die Station frei verfügen, die Peitsche: stimme der Fachbereich nicht zu, drohe die Schließung des gesamten Fachbereiches.

14Der damals amtierende Dekan erzählte mir, er habe die Rechtmäßigkeit einer solchen Aktion hinterfragt und wäre daraufhin mit Kündigung bedroht worden.

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