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Anfänge der Kasseler Primatenkolonie und Grundsätzliches

1974 wechselte ich an die Universität in Kassel, die damals noch Gesamthochschule Kassel hieß. Derjenige, der diese Hochschule damals Universität nannte, musste mit Abstrafung (Mittelkürzungen) rechnen, der Name war ideologisch überhöht, die Gesamthochschule sollte eine besondere Vorzeigehochschule sein, ein Beispiel für gute sozialdemokratische Hochschulpolitik und -planung. Über viele Jahre zog sich dieser Namensstreit hin. Da man als Wissenschaftler außerhalb des bundesdeutschen Raumes große Schwierigkeiten hatte, den Namen zu erklären, führten wir als Wissenschaftler als Adresse und sozusagen Übersetzung die „University of Kassel“ ein, was aber auch zu Schwierigkeiten führte, gab es doch diese Institution nicht im Kasseler Telefonbuch.
Einmal rief mich eine freundliche Sekretärin des australischen Botschafters an, sie war überglücklich als sie mich in der Leitung hatte. Sie hätte unzählige Male versucht, mich zu erreichen, die Kasseler Universität hätte die Auskunft nicht gefunden. Innerhalb der Hochschule gab es regelmäßig Initiativen zur Umbenennung. Diese waren oft fast erfolgreich, doch stets vor Erreichung des Zieles der Umbenennung gab es auch Umbenennungsinitiativen der in der Opposition befindlichen Christdemokraten, wodurch das Anliegen politisch erledigt war. Als Kompromiss führten dann die Regierenden bei der Gesetzgebung den Satz „Die Gesamthochschule Kassel ist eine Universität des Landes Hessen“ ein. Die Umbenennung musste aber noch lange auf sich warten lassen. Dementsprechend wurde ich dann auch in Kassel nicht Mitarbeiter eines Institutes, vielmehr Mitarbeiter einer von Prof. Dr. Werner Meinel geleiteten Arbeitsgruppe, deren Namen „Arbeitsgruppe Zoologie und vergleichende Anatomie“ wir dann mit „Department of Zoology and Comparative Anatomy“ übersetzten. In dieser Arbeitsgruppe wurde ich eingestellt, um eine Primatenkolonie aufzubauen, dabei war vor allem an Echte Affen gedacht.
In einem Raum des sogenannten AVZ (Aufbau- und Verfügungszentrum) lebten auch bereits einige Echte Affen, nämlich südamerikanische Weißbüschelaffen Callithrix jacchus. Diesen und auch mir kam zugute, dass die Deutsche Forschungsgemeinschaft mir einen Aufenthalt am Anthropologischen Institut in Göttingen finanzierte. Hier machte mich Dr. Hartmut Rothe auf einen Artikel von Hampton [65] aufmerksam, der seiner Arbeit über Haltungsbedingungen von Lisztaffen eine wohl wichtige Fußnote anfügte: „Since the manuscript was presented, we have felt it wise to supplement this diet with 400 I.U. of vitamin D3 per animal each day.“. Diese zusätzliche Vitaminisierung (zur sowieso mit Vitaminen angereicherten Diät) übernahm ich dann auch für die Kasseler Weißbüschelaffen.

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#Die##hohe###Anreicherung###der###Di¨at##mit###Vitamin###D3###ist###nach##der#
#wissenschaftlichen##Lehrmeinung###nicht##gerechtfertigt#und##nicht#vertretbar,
#als#Verhaltensforscher#war##ich##aber#nicht#an##richtig##ern#¨ahrten#Primaten##
#interessiert.##Sie#sollten##vielmehr##gesund##sein#und##m#¨oglichst#lange##leben.#
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#Dies##wurde##von##mir##erreicht.###Wir###gaben##auch##sp¨ater##den##¨ubrigen#
#s¨udamerikanischen##Primaten#diese#zus¨atzliche#Dosis.#Jeden#Morgen##erhielten#
#alle#s¨udamerikanische##Primaten##einen##vitaminisierten#Futterbrei#angeboten,#
#den##sie#erst#einmal##essen##mussten.###Verschm#¨ahten##sie#ihn,#¨anderten##wir#
#die#Konsistenz##und/oder###den##Geschmack,###bis#der##Brei##so#lecker#war,#
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#dass##er##sofort#angenommen####und###vertilgt#wurde.####Da###ich##bei#meinen##
#Kontrollg¨angen##so gro#ßen#Wert#auf#einen#leeren#Breinapf#legte, meinte#eine
#meiner#Tierp#flegerinnen,##mir#eine#Freude##zu#machen,##wenn#sie#den#Breinapf#
#vor meinem##Rundgang##reinigte.#Doch##wurde#dies auch#erkannt#und#abgestellt.

Bevor ich über die ersten Ergebnisse und Einsichten an Weißbüschelaffen berichte, muss ich einige Bemerkungen zu den „Affen“  vorausschicken. Während der Begriff „Halbaffen“ häufig den Menschen nicht geläufig ist, dieser manchmal auch Erheiterung hevorruft - „halbe Affen“ - kann sich eigentlich jeder Mensch unter „Affe“ etwas vorstellen. Zeigt man Menschen Bilder von z. B. Kapuzineraffen und Rhesusaffen werden diese ohne Zögern als „Affen“ angesprochen. Häufig folgt dann noch die Frage, ob denn der Mensch tatsächlich vom Affen abstamme.1 Von den „Affen“ haben die Menschen eine Vorstellung. Unabhängig von dieser Zustimmung sind die Begriffe „Affe“ oder „Affen“ fragwürdig.
Bei der Unterordnung der Echten Affen, den Simiae, kann man zwei Zwischenordnungen unterscheiden, nämlich die Affen der „Alten Welt“ und diejenigen der „Neuen Welt“ die dann auch als Altweltaffen und Neuweltaffen bezeichnet werden.2
Der Zoologe, der den Begriff „Affe“ benutzt, muss freilich auch die Frage beantworten, wie die Affen nach Südamerika gelangt sind. Man stelle sich eine Weltkarte vor und spekuliere mit dem Wissen, dass Affen sich entwicklungsgeschichtlich in Afrika oder Eurasien entwickelt haben, dann könnte man annehmen, die Affen könnten über die Behringstraße und Nordamerika gewandert sein. Für diese Annahme fehlen jegliche Hinweise, insbesondere gibt es in Nordamerika keinen Fossilfund eines echten Affen. Zudem waren Nord- und Südamerika nicht zusammenhängend. Alternativ könnte man vermuten, dass sich die Affen nach dem Zerfall der Landmasse Pangaea in einen Nordkontinent (Laurasia)und einen Südkontinent (Gondwana) in Gondwana entwickelt hätten, was man als Gondwana-Verbreitung bezeichnet. Bei dem Auseinanderdriften von Gondwana zu Afrika und Südamerika hätte dann in beiden Teilkontinenten eine Weiterentwicklung der Affen stattgefunden. Leider muss auch diese Annahme abgelehnt werden, da die Entwicklung der Primaten zeitlich erst nach dem Auseinanderdriften der Kontinente stattgefunden hat.
Ich persönlich bin daher der Meinung, die „Affen“ als taxonomische Einheit gibt es nicht. Der Begriff „Affe“ bezeichnet vielmehr wie auch der Begriff „Halbaffe“ ein bestimmtes Evolutionsniveau. Nach meiner Einschätzung haben sich die Affen der Alten und Neuen Welt unabhängig voneinander aus halbäffischen Ahnen entwickelt. Ich spekuliere, die Affen Südamerikas mögen sich entweder in Mittelamerika aus halbäffischen Ahnen entwickelt haben oder die Fossilgeschichte der Halbaffen mag älter sein als bisher angenommen, so dass man für die halbäffischen Ahnen der Affen eine Gondwana - Verbreitung nicht ausschließen kann.3


Abbildung 5.1: Zu den Breitnasenaffen gehört der Gehaubte Kapuzineraffe, über den in Kapitel 13 ausführlich berichtet werden wird.




Abbildung 5.2: Zu den Schmalnasenaffen gehört der Javaneraffe, über den in Kapitel 14 ausführlich berichtet werden wird.


Folgt man der in Kapitel 1 vorgeschlagenen Aufteilung der Primates in Strepsirrhini und Haplorrhini könnte man zudem spekulieren, dass diese Vertreter haplorrhine Halbaffen gewesen sind. Es sei aber nicht verschwiegen, dass dies reine Spekulation ist, da man bei den Fossilien auf wichtige Informationen der Weichteilmorphologie verzichten muss und nicht zwischen den Strepsirrhini und den Haplorrhini differenzieren kann.
Unstrittig scheint, dass es den äffischen Ahnen der Affen nicht gibt, dass also die Affen Südamerikas unabhängig von den übrigen Affen enstanden sind. Die Affen Südamerikas werden auch als „Breitnasenaffen“ bezeichnet, da die Nasenlöcher seitlich auseinandergehen – mit breitem Steg –, die Affen der Alten Welt hingegen als „Schmalnasenaffen“. Ein eindeutiges Merkmal, um Neuwelt- und Altweltaffen zu unterscheiden, ist die Anzahl der Vorbackenzähne, der Praemolaren, die Platyrrhina haben 12, jeweils drei, die Catarrhina 8, jeweils 2, im Ober- und Unterkiefer, rechts und links. Da das Gebiss der Ahnen der Affen, der Halbaffen, mit vier mal drei Vorbackenzähnen ausgestattet ist, erscheint das Gebiss der Platyrrhina ursprünglicher, die Catarrhina wären somit „evoluierter“ .
In einer früheren Fassung dieses Buches hatte ich dann ausgeführt: „Innerhalb der Platyrrhina unterscheide ich in diesem Buch drei Familien, nämlich die Callitrichidae (Krallenaffen), die Callimiconidae (Springtamarine) und die Cebidae (kapuzinerartige Neuweltaffen). Die Callitrichidae lassen sich von den übrigen südamerikanischen Primaten unabhängig von der Körpergröße durch den Verlust des dritten Backenzahnes unterscheiden.4 Argumente für eine gesonderte Familie Callimiconidae werden wir in Kapitel 8 angeben.“ Bei der Bearbeitung des Callimico - Kapitels habe ich diese aus primatenethologischer Sicht berechtigte Auffassung über die richtige systematische Zuordnung von Callimico durch nach meiner Einschätzung überwältigend eindeutige ethologische Befunde überzeugend bekräftigt. Doch muss man als Ethologe auch eingestehen können, dass wir von dem Verhalten unserer Ahnen eigentlich nichts wissen können. Verhalten wird zwar zweifellos vererbt, doch gibt es für das Verhalten keine fossilen Spuren. In dem Kapitel werde ich bei der richtigen systematischen Zuordnung auch Ergebnisse anderer Disziplinen berücksichtigen müssen. Demnach ist Callimico eindeutig ein Vertreter der Callitrichidae. Das hat zur Folge, dass es das „Krallenaffen typische“ Verhalten nicht mehr gibt. Vielmehr muss immer der Zusatz „ohne Callimico“ mitgedacht werden. Ob für die übrigen südamerikanischen Primates die Annahme einer Familie (Cebidae) hinreichend ist oder ob diese gesonderten Familien zuzuordnen sind, kann in diesem Beitrag unbeantwortet bleiben.

1Diese Frage habe ich unzählige Male gestellt bekommen. Natürlich ist die Frage nur mit „nein“ zu beantworten, da der Mensch selber zu den Affen gehört. Der Mensch ist ein Affe und stammt wie alle Affen von halbäffischen Ahnen ab.

2Die Alte Welt sind die Kontinente Eurasien und Afrika, die Neue Welt sind Nord- und Südamerika.

3Willi Hennig [74] hat auf diesen Umstand hingewiesen: „For long periods of the earth’s history modern animal groups are completely unrepresented by fossils, although we know from older accidental finds that they must have lived during those times. Consequently paleontology supplies at best only the minimal age, not the actual age, of an animal group. Only in very rare cases are fossil finds so numerous that separation of the stem lines of different groups can be adequately documented.“([74], Seite 163)

4Morphologisch müsste man danach die Callitrichdae als die evoluierteren Platyrrhina ansprechen, dagegen freilich sprechen die ethologischen Befunde, insbesondere das ursprüngliche Eltern-Kind-Verhalten und die frühe Geschlechtsreife.

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