Unseren Beitrag über die Springaffen in „Grzimeks Enzyklopdie Säugetiere“ leiteten meine
Mitarbeiterin Cornelia Schäfer-Witt und ich 1988 ein mit dem Satz: „Im Gegensatz zu den
Totenkopfaffen1
und Nachtaffen2,
die scheinbar völlig mühelos kletternd, laufend und springend und mit hoher
Geschwindigkeit durch das Astwerk und über Lianen flitzen, bewegen sich der
Sumpfspringaffe (Callicebus moloch), der Witwenaffe (Callicebus torquatus) und der
Maskenspringaffe (Callicebus personatus), nur sehr langsam und vorsichtig. Sicher
können diese auch gut und zielsicher springen, doch ziehen sie das vierfüßige Laufen
und Klettern eindeutig dem Springen vor. Die drei Arten werden zur Unterfamilie
Callicebinae vereint.“ ([281], Seite 131)
Insofern muss man sich tatsächlich fragen, wie die Springaffen zu ihrem deutschen Namen
gekommen sind. Dies hat historische Gründe der systematischen Zuordnung der kleinen
„Nichtkrallenaffen“ zu Ende des 19. Jahrhunderts, damals wurden z. B. von Forbes
1894 [57] innerhalb der Cebidae eine Unterfamilie Nyctipithecinae mit den Species
Chrysothrix3,
Callithrix4 und
Nyctipithecus5
beschrieben.6
Dementsprechend stellt Brehm 1864 [12] die ihm bekannten Formen südamerikanischer
Primaten nebeneinander vor, darunter „eine kleine Gruppe amerikanischer Affen,
welche man wegen ihrer Beweglichkeit Springaffen .... genannt hat. Es sind gesellige
Thiere, welche in den Baumkronen der dichten Wälder den ganzen Tag munter und
rasch herumklettern und springen. Furchtsam größeren Tieren gegenüber, werden sie
selbst doch kleineren gefährlich. Ihre Liebenswürdigkeit in der Gefangenschaft
macht sie zu gern gesehenen Genossen des Menschen; doch hindert uns die
Zärtlichkeit und Hinfälligkeit der Thierchen, sie außer in ihrem eigentlichen
Vaterlande zu halten. Ihr schmackhaftes Fleisch wird gern gegessen.“ ([12], Seite
115).
Mit dem Namen „Springaffen“ wurden also vor allem Totenkopfaffen tituliert!
Offensichtlich waren Brehm mehrere Arten bekannt, so dass er eine Auswahl traf.
„Wir erwählen uns den gemeinen Saimiri oder Totenkopfaffen (Callithrix
sciurea) und den Titi oder die Witwe (Callithrix torquata), über welche uns
namentlich Alexander v. Humboldt Ausführliches berichtet hat.“([12]). Die
Reiseberichte von Alexander von Humboldt entstanden zu Beginn des 19.
Jahrhunderts und wurden ca. 1820 publiziert. Sie waren „die“ Quelle
jeglichen Wissens über südamerikanische Primaten. „Die Saimiri oder Titi des
Orinoco7,
die Atelen8,
die Sajous9
und andere seit langer Zeit in Europa bekannte Vierhänder bilden einen großen Kontrast in
Haltung und Betragen zu dem Macavahu, den die Missionare viudita oder Trauernde Witwe
nennen.10
... Der Charakter dieses kleinen Affen, der sich nur zum Fressen auf die Hinterpfoten
aufstellt, kündigt sich durch seine Haltung nur wenig an. Er hat ein sanftes und
schüchternes Aussehen; die ihm dargebotene Nahrung verweigert er öfters auch dann,
wenn er vom großen Hunger gequält wird. Er meidet den Umgang mit anderen Affen,
und schon der Anblick des kleinsten Saimiri verjagt ihn. Sein Auge drückt viel
Lebhaftigkeit aus. Wir haben ihn stundenlang in unbeweglicher Stellung gesehen, ohne
zu schlafen, und sehr aufmerksam, was um ihn herum vorging. Aber diese
Schüchternheit und Sanftheit sind nur scheinbar. Wenn sie allein und sich
selbst überlassen ist, wird die viudita beim Anblick eines Vogels wütend; sie
klettert und läuft alsdann mit erstaunlicher Schnelligkeit; sie springt wie eine
Katze auf ihren Raub los und erwürgt, was sie erwischen kann. ... Die viudita
hat uns auf der ganzen Reise vom Casiquiare und vom Rio Negro zweimal
bei den Katarakten vorbei begleitet.“ (von Humboldt ([229]), Seiten 222 -
223).
Diese Verhaltensbeobachtungen an Callicebus torquatus blieben fast ein Jahrhundert lang die
einzige Quelle für das Verhalten des Springaffen. In der Neubearbeitung des „Brehm“ stellt
Ludwig Heck ([68]) die Springaffen als ursprünglichste Vertreter der Unterfamile Aotinae
(Nachtaffenartige)11
vor: „Sie kennzeichnen ein schlanker Körper mit schlanken Gliedmaßen und sehr
langem, dünnem und schlaffem Schwanze, der runde Kopf mit bartlosem Gesichte und
kurzer Schnauze, hellen Augen und großen Ohren, ... Die Springaffen leben in
kleinen Gesellschaften, die aus einer oder einigen Familien bestehen, in den
stillen Waldungen Südamerikas und machen sich hier durch ihre laute Stimme
bemerkbar. Im Gezweige bewegen sie sich mit kurz zusammengezogenem Leibe
verhältnismäßig langsam. Ihre Stimme, nach der der Brüllaffen die stärkste
und weitschallendste, die man von den dortigen Affen vernimmt, verrät sie
auf fernhin dem Jäger, der ihnen ihres zarten und leckeren Fleisches halber
eifrig nachstellt. ... ihr Wesen ist außerordentlich sanft, und sie werden im
höchsten Grade zahm.“ ([68], Seiten 461 - 462. Heck zitiert dann wiederum die
Beobachtungen von Humboldt’s und berichtet von Beobachtungen des Prinzen
von Wied: „Sie werfen nur ein Junges, welches die Mutter so lange mit sich
umherträgt, bis es stark genug ist, den Alten zu folgen. ... Schießt man die
Mutter12
von einem Baume herab, so erhält man gewöhnlich das Junge, welches sie auf dem
Rücken oder unter dem Arme zu tragen pflegt, lebend und kann es alsdann leicht
erziehen und zähmen; ...“ ([68], Seite 463) Heck schließt seinen Beitrag: “In unseren
Tiergärten gehören Springaffen zu den größten Seltenheiten, obschon dann und wann
einer oder der andere lebend zu uns gelangt. Ich bin niemals so glücklich
gewesen, einen einzigen zu sehen, und weiß daher aus eigener Beobachtung nichts
mitzuteilen.“ ([68], Seite 463).
Die Unterordnung Aotinae mit den Genera Aotus und Callicebus wurde dann
jahrzehntelang beibehalten, wenngleich der Anatom R. I. Pocock bereits 1925 der
Zuordnung beider Genera in ein- und dieselbe Unterfamilie widersprach: „Neither in
cranial nor external characters, therefore, are the likeness between Aotus and
Callicebus sufficiently close to justify the view that they are closely related, and
I regard them as representing respectively two subfamilies – Aotinae and
Callicebinae.“ ([161]13.
Die Meinung von Pocock wurde auch von W. C. O. Hill 1960 gestützt ([87]). Dieser
Auffassung sind wir in unserem Beitrag gefolgt.
Hill ([87] berichtete in seinem Standardwerk für Callicebus von sieben Arten mit
zahlreichen Unterarten. Dieser Einteilung widersprach dann Hershkovitz 1963 ([75])
und erkannte nur noch drei Arten als valide an, nämlich Callicebus moloch, Callicebus
torquatus und Callicebus personatus. Seiner Meinung, die er auch in weiteren Arbeiten
betonte (vgl. u. a. [76]), folgten auch u. a. Napier und Napier 1967 ([144]),
Jones und Anderson 1978 ([107]) und wir in unserem Beitrag ([281]) (s. o.).
Hershkovitz hingegen revidierte seine Einschätzung, nach ihm müsse man
mindestens 10 Arten ([80]) bzw. dreizehn Arten und sechzehn Unterarten ([81])
unterscheiden. Er unterteilte nun „seine“ Art Callicebus moloch allein in sieben
Arten und acht Unterarten, darunter Callicebus moloch und Callicebus cupreus
mit den Unterarten Callicebus cupreus cupreus, Callicebus cupreus discolor
und Callicebus cupreus ornatus. Im deutschen Schrifttum wurde auch bereits
zwischen dem „Grauen Springaffen“ (Callicebus moloch) und dem „Roten
Springaffen“ (Callicebus cupreus) differenziert (vgl. u. a. [71]), was dann aber auch
dazu führte, dass Mason, der eindeutig Rote Springaffen untersucht hat, als
Beobachter und Halter von Grauen Springaffen angegeben wurde ([71]). Die neuen
Revisionen von Hershkovitz waren uns bei dem Verfassen unseres Beitrages nicht
bekannt.14
Cornelia Schäfer-Witt und ich berichten, dass die Springaffen in kleinen Familiengruppen
leben, und fahren fort: „Gerade in den frühen Morgenstunden kann man ihre
Gesänge - im Vergleich zu den Nachtaffen haben sie eine außergewöhnlich
klangvolle Stimme - schon von weitem hören. Das natürliche Zusammenleben der
Sumpfspringaffen beobachtete der amerikanische Psychologe William Mason
([128])15,
über das Leben der Witwenaffen sind wir durch mehrere Felduntersuchungen des
Zoologen Warren Kinzey ( u. a. [112]) unterrichtet. Ihm verdanken wir auch
erste Beobachtungen von Maskenspringaffen in ihrem natürlichen Lebensraum
([113]).
Alle Springaffen haben ein festes Wohngebiet oder Revier und verteidigen es gegen
andere Familiengruppen; von Art zu Art unterschiedlich sind aber der bevorzugte
Lebensraum und die Form der Verteidigung. Sumpfspringaffen leben im dichten
Unterholz von häufig oder ständig überfluteten Wäldern und wandern jeden Morgen
an die Grenzen ihrer Reviere, um zu „singen“. Danach kehren sie in die Mitte ihres
Revieres zurück. Durch die Rufe werden die Grenzen zwischen den verschiedenen
Gruppen täglich erneut festgelegt. Maskenspringaffen und Witwenaffen hingegen
ziehen offenere Waldgebiete vor, haben größere Reviere und zeigen anderen Familien
ihre Anwesenheit durch laute Gesänge aus der Wohngebietsmitte heraus an. Die
Gruppen vergrößern also die Entfernung untereinander, ihre Rufe dienen eher der
Abstandshaltung.
Auch in der Zusammensetzung der Nahrung unterscheiden sich die drei Springaffenarten.
Während Sumpfspringaffe und Maskenspringaffe sich vornehmlich von Früchten und
auch von Blättern ernähren, benötigen die Witwenaffen auch Kerbtiere zu ihrem
Speiseplan. Ein Fünftel ihrer Nahrung besteht aus diesen. Der Anteil der
Kerbtiere entspricht damit dem der Blätter bei den beiden anderen Arten.
Springaffenpaare wirken geradezu unzertrennlich. Die Partner sitzen beim Ruhen, ihrer
„Hauptaktivität“, meist eng beisammen und wickeln die Schwänze umeinander, so
intensiven Kontakt haltend. In Familiengruppen sind häufig die Schwänze aller
Gruppenmitglieder umeinander gewickelt. In der Gruppe geborene Jungtiere pflanzen
sich - wie bei den Nachtaffen - auch selbst erwachsen in der Familiengruppe nicht
fort.
Nur sehr selten treffen wir Springaffen in zoologischen Gärten an, sie gelten als
ausgesprochen heikel und eigentlich nicht haltbar. Unsere Springaffen leben
nun teilweise seit über neun Jahren in unserer Obhut. Welches tatsächliche
Höchstalter sie erreichen können, wissen wir bisher nicht. Die Tiere, die wir
vor neun Jahren erhalten haben und die damals mindestens vier Jahre alt
waren, zeigen noch keine Anzeichen von Vergreisung.“([281], Seiten 131 - 132).
Über unsere Kolonie und die Lebenschicksale einiger Individuen werde ich noch weiter
unten berichten, hier sei herausgestellt, dass die Mehrheit der Mason’schen Tiere und
alle Individuen der Kasseler Kolonie Vertreter der Art Callicebus cupreus in sensu
Hershkovitz sind. Unsere Tiere gehören den Unterarten Callicebus cupreus cupreus
oder Callicebus cupreus discolor an bzw. sind Hybride oder Mehrfachhybride dieser
Unterarten.
In unserem Beitrag wird zudem auf die Vorgeschichte unserer Kolonie eingegangen:
„Die erfolgreiche Springaffenhaltung geht auf William Mason zurück, der - wie schon
erwähnt - Springaffen 1964 und 1965 insgesamt elf Monate lang in Kolumbien
beobachtete. Er hatte die Idee und auch den Mut, eine Kolonie dieser kaum bekannten
Art im Delta R. P. R. C. in Covington, Louisianna, aufzubauen.“ ([281], Seite
132)
Die Koloniebildung war schwierig, die Todesraten der importierten Tiere hoch, so musste
Mason 282 Tiere importieren, um schließlich (1970) eine etablierte Kolonie von 45 Individuen
zu besitzen, wobei die Mehrheit der importierten Tiere in den ersten drei Monaten
starb.([125])16
Das Forschungsanliegen, dass Mason hatte, war nach den Ursachen zu suchen, wie es
zur Ausprägung so auffälliger Verhaltensweisen bei einer Species kommen kann. Er
hatte die Idee, parallel unter identischen Haltungsbedingungen paarweise
Springaffen und Totenkopfaffen zu halten und durch geeignete Experimente
nach den Ursachen dieser Unterschiede zu suchen. Diese Arbeit verfolgte er
über mehrere Jahrzehnte, anfänglich in Covington, später in Davis am
California R. P. R. C. Den Hintergrund seine Fragestellung erläuterte
er umfangreich in einem Beitrag „Primate Social Behavior: Pattern and
process“ ([133]).17
Gemeinsam mit Gisela Epple führte er auch in Covington ein großes Experiment
durch. Er ließ jeweils neun paarweise gehaltene Springaffen bzw. neun paarweise
gehaltene Totenkopfaffen in einer großen Freianlage zusammen, um zu testen,
ob die gemeinsame Haltungserfahrung der Paarpartner Einfluss auf die zu
beobachtenden sozialen Präferenzen hat. Die Artunterschiede waren offensichtlich,
Totenkopfaffen präferierten gleichgeschlechtliche Artgenossen vor dem vertrauten
Partner, Springaffen dagegen hielten engeren Kontakt zu ihrem vormaligen
Paarpartner als zu irgendeinem anderen Individuum, weibliche Individuen
vermieden zudem auffällig den Kontakt zu anderen Weibchen. ([135]), vgl.[129],
[131].
„Nachdem sich die Kolonie unter größten Anfangsschwierigkeiten endlich eingewöhnt
hatte, zog Mason mit einem Teil der Tiere nach Davis in Kalifornien um; der Rest
blieb zurück, wurde später von dem deutschen Zoologen und Mason-Mitarbeiter
Rainer Lorenz mit in die Bundesrepublik genommen und fand am Anthropologischen
Institut der Universität Göttingen eine vorübergehende Heimat. Von Rainer
Lorenz erhielten wir auch unsere Ursprungskolonie. Da der Rest der Tiere von
ihm zurück in die USA zu William Mason geschickt werden mußte, gibt es
also heute zwei erfolgreiche Kolonien, in Davis und in Kassel.“ ([281], Seite
132).
Unsere ersten vier Springaffen erhielten wir am 2. Februar 1977. Rainer Lorenz
brachte die Paare Tarzan (C.c.cupreus) und Stewarda (C.c.discolor) und Luke und
Jeanette (beide C.c.discolor) persönlich nach Kassel. Nachdem diese vier in Kassel
überlebten, was nicht selbstverständlich war, erhielten wir von ihm am 22.
April 1977 noch zwei Familiengruppen, nämlich Pal (C.c.cupreus) und Laurie
(Hybrid aus C.c.cupreus und C.c.discolor) und ihren Sohn Franz, bzw. Gantt
(Hybrid aus C.c.cupreus und C.c.discolor) und Lynn (C.c.cupreus) mit ihrer
Tochter Suse, wobei Suse bereits am 15. September 1977 an akutem Durchfall
starb. Dieser Verlust wurde am 5. November 1977 durch die erste erfolgreiche
Aufzucht eines Springaffen ausgeglichen, die kleine Reina war für uns die
Bestätigung eines hinreichenden Haltungserfolgs. Am 11.November gelangten
auch noch die Paare Shelby (Hybrid aus C.c.cupreus und C.c.discolor) und
Charlotte (C.c.discolor) und Ed und Milly (C.c.cupreus) zu uns. Am 16.
Februar überließ uns Rainer Lorenz schließlich noch Linda (C.c.cupreus).
Ingesamt hatten wir also von ihm 15 Springaffen erhalten. Ich begleitetete diese
Individuen und ihre Nachkommen 17 Jahre lang. 1996 hielten wir in der Kasseler
Primatenstation immer noch fünfzehn Nachkommen dieser Ausgangspopulation,
einige bereits in dritter und vierter Generation in Menschenobhut, was für eine
Springaffenhaltung sicherlich äußerst erfolgreich ist. Gantt und Laurie wurden
bei uns dreiundzwanzig Jahre alt. Gantt war noch im Alter von 22 Jahren
reproduktiv aktiv, Weibchen zogen auch im Alter von 18 Jahren Jungtiere
auf.
Gemeinsam mit meiner Mitarbeiterin Annette Klaiber-Schuh analysierten
wir 1995 die Reproduktionsdaten unserer Kolonie ([271]. Insgesamt wurden
in Kassel 82 Kinder (nur Einlinge) geboren, die Überlebensrate war
gering18,
nur 31 % der Neugeborenen überlebten die erste Lebenswoche, von den Überlebenden
erreichten dann aber 84 % zumindest das erste Lebensjahr. Erstgebärende Weibchen
(n = 9) waren weniger erfolgreich als mehrfachgebärende, nur eines der Kinder lebte
länger als eine Woche. Da Springaffenkinder auch als Erwachsene nicht züchtend in der
Familie bleiben dürfen, haben wir keine Daten zur Geschlechtsreife, die jüngste Mutter
in unserer Kolonie war zum Zeitpunkt der Geburt ihres Kindes vier Jahre alt. Der
Geburtenabstand hängt deutlich ab von dem Aufzuchtserfolg, er betrug 396 ± 32 Tage
bei Kinder nährenden Weibchen (n = 22) und 280 ± 29 Tage bei Weibchen, die das
Kind verloren hatten (n = 45). Eine Saisonalität war bei den Geburten in der Kolonie
nicht erkennbar. Der kürzeste Abstand zwischen zwei Geburten betrug nur 136 Tage,
was die Spekulation erlaubt, dass Weibchen sofort nach der Geburt erneut schwanger
werden können. Das Geschlechterverhältnis Männchen zu Weibchen war 1
: 1,3 bei allen Jungtieren und 1 : 1,5 bei den überlebenden Kindern. Dies
war sicherlich zufällig, bedeutete aber, dass wir ständig Männchenmangel
hatten.
Bereits 1978 ließ ich unsere Springaffen von zwei engagierten studentischen
Mitarbeitern beobachten. Cornelia Steiner und Elke Erbe-Grünkorn
fertigten über die bei uns gehaltenen Paare ihre Staatsexamenarbeiten
an19.
Beide erhoben ihre Daten gemeinsam und wechselten sich bei dem Beobachten
ab. Elke Erbe-Grünkorn analysierte die lokomotorische Aktivität von vier
Paaren. Der Aktivitätsverlauf ist zweiphasisch, das Hauptmaximum liegt in der
zweiten Hälfte der Aktivitätszeit. „Während der Aktivitätsphasen bewegten
sich die acht untersuchten Tiere vornehmlich springend durch den Käfig. Die
Bevorzugung dieser Bewegungsweise war aber sicherlich auch abhängig von
der Käfigeinrichtung. So beobachteten wir in längeren bzw. tieferen Käfigen
die Bevorzugung des vierbeinigen Laufens.“([245]). Zudem muss angemerkt
werden, dass unsere Tiere eher unbeholfen und schwerfällig sprangen. Cornelia
Steiner analysierte die zeitliche Verteilung des Verhaltens, sie analysierte den
Zusammenhang bestimmter Verhaltensweisen mit der lokomotorischen Aktivität und
konnte belegen, dass soziale Aktivitäten vor allem zu Zeiten lokomotorischer
Inaktivität auftreten, da dann die Partner in engem Körperkontakt gemeinsam
ruhen.
Ich selber beobachtete systematisch Familiengruppen und regelmäßig alle Tiere der
Kolonie. Die Springaffen waren nämlich unsere Sorgenkinder. „Da gerade
Springaffen wohl zu den heikelsten aller Affen gehören, wollen wir über unsere
Erfahrungen ausführlicher berichten. Sicherlich sind die Käfiggröße und -einrichtung
sowie der Futterplan nur eine wichtige Voraussetzung für die erfolgreiche
Haltung. Vielleicht von größerer Bedeutung für empfindliche Primaten ist das
tägliche Besuchen jedes Tieres durch uns Wissenschaftler, können wir doch so
selbst geringfügige Veränderungen im Verhalten feststellen und sofort nach
Abhilfe suchen. Diese täglichen Besuche haben wir uns zur Pflicht gemacht.
Auch wir mussten anfangs leider mit ansehen, wie trotz dieses Aufwandes
immer wieder einer unserer Springaffen kränkelte, an Gewicht verlor und nach
monatelangem Siechtum starb. Springaffen schienen wirklich nicht haltbar zu sein.
Durch vorsichtiges Ändern des Futterplanes versuchten wir - vergeblich - die
Schwierigkeiten zu lösen. Endlich gab die am 5. November 1977 in Kassel geborene
Reina20
die Antwort.
Das Tier begann im Alter von drei Jahren zu kränkeln, wurde immer schwächer und
lag schon fast im Sterben. Reina, der erste bei uns geborene Springaffe, tat uns
besonders leid. Wir nahmen sie aus dem Käfig, setzten sie in einen sehr kleinen
Transportkäfig und nahmen sie mit in unser Arbeitszimmer. Wir wollten
sie nicht am nächsten Morgen tot am Boden finden, heruntergefallen vom
Klettergerüst.21
In dem Arbeitszimmer lebten zu dieser Zeit kleine Makakenkinder. In ihm wurde
gearbeitet, geraucht und laut geredet. Ein Raum also, der für die Haltung so
empfindlicher Tiere äußerst ungeeignet schien. Am nächsten Morgen war Reina aber
nicht tot, sondern nahm gierig den dargebotenen Spezialbrei an, und ihr chronischer
Durchfall schien gestoppt. Von Tag zu Tag ging es ihr besser. Die ungewöhnliche
Umgebung störte sie offensichtlich nicht, sie genas vielmehr völlig. Wenn
man sich Reina heute ansieht, wie sie kräftig im Käfig herumspringt, erinnert
überhaupt nichts mehr an einen Todeskandidaten. Warum war nun Reina plötzlich
genesen? Dies war die Frage, die wir beantworten mussten. Bald fanden wir
die Lösung: wir hatten Reina nämlich von anderen Springaffen getrennt, die
vorher im selben Raum gelebt hatten. Wir überprüften die Todesfälle der
Vergangenheit und stellten fest, daß jeweils nur in einer der beiden in einem Raum
gehaltenen Gruppen Todesfälle zu verzeichnen waren. Offensichtlich wurden die
Springaffen durch ihre in einem anderen Käfig ohne Sichtkontakt gehaltenenen
Artgenossen bedrängt. Mit ihren lauten Rufen bedrohten sie einzelne Tiere der
anderen Gruppe so sehr, daß diese seelisch krank wurden und langsam jeden
Lebenswillen verloren. Nun hatten wir eine Lösung für unsere Haltungsprobleme
gefunden. Sobald einer unserer Springaffen über längere Zeit an Durchfall
leidet, wird er aus dem Käfig genommen und in einen anderen Haltungsraum
gebracht. Seitdem ist kein Springaffe aus unserer Kolonie mehr (an Durchfall)
gestorben.22
Morgens erhalten unsere Springaffen einen von uns selbst angerichteten Brei,
mittags Zwieback, Kartoffeln und Ei und nachmittags Früchte und Gemüse nach
jahreszeitlichem Angebot, wobei wir ihnen täglich Bananen, Möhren, Paprika und
Zwiebeln anbieten. Während des Abendrundganges geben wir zusätzlich noch
Futterpellets, ein Preßfutter, das eigens für Krallenaffen entwickelt wurde und allen
von uns gehaltenen Affen gut schmeckt. Besonders aufwendig ist die Zusammensetzung
des Futterbreies, den übrigens auch unsere Nachtaffen erhalten. Wir wissen nicht, ob
der Brei gut ist. Wir können auch nicht für alle Bestandteile einen wissenschaftlich
überzeugenden Grund angeben, wollen aber, da er sich über Jahre bewährt hat, seine
Zusammensetzung nicht verschweigen. Für unsere 37 Nacht- und Springaffen (18
Nachtaffen und 19 Springaffen) nehmen wir eine Tasse Bananenbreipulver für
Säuglinge, je einen Teelöffel Traubenzucker, Weizenkleie und Kalk und fügen eine Prise
Salz, Vitamin D3 (15 Tropfen), Vitamin-B-Komplex (10) und eine Kapsel medizinische
Bierhefe, einen Eßlöffel Lebertran und 125 g Magerquark hinzu. Der Brei wird
mit abgekochtem Wasser, in dem wir eine Messerspitze Geliermittel für die
Marmeladenherstellung vorher aufgekocht haben, angerührt und mit Reisflocken für
Säuglinge so verdickt, dass er von den Tieren leicht in die Hand genommen
werden kann. Er darf nicht zu weich sein und nicht kleben, dies haben wir
von unseren Tieren gelernt. Wenn er klebt, schütteln die Springaffen ihn -
offensichtlich angewidert - mit ausgestreckten Fingern ab. Täglich erhält jeder
Springaffe (und jeder Nachtaffe) einen halben gehäuften Eßlöffel von diesem
Brei.
Auch in unserer Kolonie ist jeden Morgen der charakteristische Gesang, der an die
lauten Rufe der Brüllaffen erinnert, zu hören. Um die Mittagszeit legen die
Springaffen eine ausgedehnte Ruhephase ein. Vormittags und nachmittags sind sie
munter, wobei ihr Aktivsein dem Inaktivsein von Totenkopfaffen (vgl. Kapitel
11) und Nachtaffen (vgl. Kapitel 10) ähnelt. Während in den Gruppen der
zuletzt genannten Arten auch Unterschiede in der Aktivität der einzelnen
Gruppenmitglieder beobachtet werden können, ist bei Springaffen die gegenseitige
Stimmungsübertragung offensichtlich besonders ausgeprägt. Alle Familienmitglieder
sind entweder aktiv oder inaktiv, sie stimmen also ihr Verhalten völlig aufeinander
ab.
Keineswegs vertragen sich nun aber immer die Partner eines von uns zusammengesetzten
Paares, so dass man neue Paare zusammenstellen muss. Hierdurch konnten wir
mehrfach das Verhalten bei Erstbegegnung beobachten. Das Männchen schmatzt,
katzbuckelt und schüttelt sich und sucht dann das Weibchen auf, verfolgt es durch den
Käfig und untersucht dessen Geschlechtsgegend. Dem Beriechen durch das Männchen
folgt als zweite Stufe das Beriechen der männlichen Geschlechtsorgane durch das
Weibchen. Daraufhin (Stufe 3) sitzen die Partner in engem Körperkontakt, putzen sich
gegenseitig (Stufe 4) und wickeln die Schwänze umeinander (Stufe 5). Die Stufe 3
wird meist bereits am ersten Tag, die Stufe 5 dagegen erst nach mehreren
Tagen erreicht. Wickeln sie die Schwänze nicht umeinander, vertragen sie sich
nicht.23
Ist die Paarbindung abgeschlossen, so sitzen die Paare täglich häufig und
lange in enger Körperberührung mit umeinandergewickelten Schwänzen. Das
Schwanzwickeln wird häufiger von den Weibchen als von den Männchen eingeleitet.
Hierzu bewegt das neben dem Partner sitzende Tier seinen Schwanz im Bereich
der Schwanzwurzel zur Seite des Partners, ergreift dessen Schwanz mit dem
körpernahen Drittel des eigenen Schwanzes, zieht so den Schwanz des Partners
heran und umschlingt ihn mehrfach. Das „Kontaktsitzen“ ist der vornehmlich
zwischen den Partnern eines Paares bestehende Sozialkontakt. Gegenseitige
Körperpflege ist seltener zu beobachten, wobei das Männchen häufiger putzt als sein
Weibchen.
In Familiengruppen lockert sich diese feste Paarbindung, wenngleich für beide Eltern
der Partner anziehender bleibt als jedes der Kinder. Unabhängig vom Weiterbestehen
dieser engen Paarbindung ist der Vater in allen von uns untersuchten Familiengruppen
das attraktivste Tier der Gruppe. Alle Jungtiere saßen und sitzen lieber mit ihm als
mit der Mutter zusammen.
Neugeborene Springaffen - stets wird nur ein Junges geboren - werden in
den ersten Lebenswochen quer zur Körperlängsachse auf dem Rücken
getragen.24
An dem Tragen beteiligen sich alle Gruppenmitglieder, am meisten der Vater. Die
Mutter trägt ihr Kind häufiger nur in den ersten Lebenstagen, danach übernimmt sie
es nur zum Säugen und bringt es dann zum Vater zurück. Der kleine neugeborene
Springaffe muss selber aktiv auf den Rücken seines Vaters klettern. Mehrfach
beobachteten wir, wie die Jungen beim Wechsel von dem sie Tragenden mit den
Händen gehalten und unterstützt werden. Sobald das Junge Hunger hat, beginnt es zu
rufen und unruhig auf dem Vater herumzukrabbeln, worauf die Mutter es
kurzfristig übernimmt. Nach dem Saugen schreit das Junge wieder, worauf
häufig der Vater herbeispringt und seinen jüngsten Sproß willig übernimmt.
Auf dem Rücken des Vaters stellt das Junge sofort seine Lautäußerungen
ein.
Im Alter von einem Monat beginnen die Jungen ihre Umgebung tastend zu erkunden
und sind offensichtlich an ihrer Umwelt interessiert. Mit fünf Wochen verlassen sie mit
der Vorderkörper ihr Tragtier, halten sich aber mit den Beinen weiter im Fell fest. In
diesem Alter werden auch erste kurze Sprünge von einem Tragtier zum anderen
gemacht. Bei den ersten selbständigen Kletterversuchen (Ende der siebten
Lebenswoche) sind die Jungen noch sehr unsicher. Erste kurze Sprünge sahen wir bei
einem Jungen im Alter von 65 Tagen. Der zunehmenden Selbständigkeit entspricht
auch eine zunehmende Abwehr der Jungen seitens der Eltern. In der Regel werden die
Jungen nach der 20. Lebenswoche mehr oder weniger selbständig und nun auch als
Spielpartner für Eltern und Geschwister attraktiv. Kampfspiele, bei denen die
Erwachsenen versuchen, die Jungen festzuhalten, auf Stangen zu drücken oder
spielerisch zu beißen, werden nun häufig. Ältere Junge spielen meist mit dem Vater, sie
springen ihn an, ziehen an seinem Schwanz oder beißen ihn am Körper. Auch
über ein Jahr alt, suchen sie bei vermeintlicher Gefahr sofort die Nähe der
Erwachsenen.
Geschwister sind beim Tragen häufig ungeschickt und versuchen, das an ihnen hängende
Kind abzuschütteln und abzustreifen. In solchen Situationen schien es mehrfach so, als ob
die Mutter ihr älteres Junges strafen wollte. Sie sprang herbei, biß oder schlug das ältere
Geschwister.25
Beide Eltern übernehmen jedoch nicht immer ihr schreiendes Kind. Nur bei echter
Gefahr, etwa beim Absturz, eilen stets beide herbei, um ihr Junges auf den Rücken zu
nehmen. Auch konnte mehrfach beobachtet werden, wie das Junge von der Mutter
aufgenommen und zum Vater gebracht wurde. Dem Vater kommt also bei den
Springaffen die höchste Bedeutung zu.
Wie bereits anfangs betont, kann die Rollenverteilung zwischen Männchen und
Weibchen jedoch kein Vorbild für unsere eigene Gellschaft sei, die Jungen befinden sich
bei jedem Wechsel in echter Gefahr und werden weit weniger bewahrt als Affenkinder,
die nur von der Mutter aufgezogen werden, zumindest im ersten Lebensabschnitt. Das
Tragen durch den Vater ist sicherlich kein höherentwickeltes Verhalten als das Tragen
ausschließlich durch die Mutter. Das Ablegen am Vater ist aber sicherlich eine
Fortentwicklung des Ablegens der Jungen an irgendeinem Ort, wie wir es bei vielen
Halbaffen bereits am ersten Lebenstag beobachten können.“([281], Seiten 132 -
136)
Da aber in der Literatur immer wieder - wegen vermeintlicher Übereinstimmungen im
Verhalten - eine Gemeinsamkeit von Aotus und Callicebus konstruiert wird,
hatte ich Barbara Jantschke für ihre Doktorarbeit das Thema „Vergleichende
Untersuchungen zum Sozialverhalten des Springaffen Callicebus cupreus und des
Nachtaffen Aotus azarae“ überlassen. Barbara Jantschke hat die ihr übertragende
Aufgabe hervorragend gelöst ([104]). Über Ergebnisse ihrer Arbeit, die ich auch
gemeinsam mit ihr und Annette Klaiber-Schuh veröffentlicht habe ([259], [260],
[261], [262], [263]), werde ich ausführlich im Nachtaffenkapitel (Kapitel 10)
berichten.
William A. Mason führte gemeinsam mit zahlreichen Studenten und Doktoranden
seine erfolgreiche Arbeit an Spring- und Totenkopfaffen weiter fort. Er ließ jeweils
10 Paare Spring- und Totenkopfaffen parallel untersuchen, Springaffenpaare
hielten mehr Kontakt untereinander und putzten sich häufiger gegenseitig.
Totenkopfaffen waren lokomotorisch aktiver ([130]). Er belegte, dass nur für
Springaffen der Paarpartner wichtig ist ([132]). Mason and Mendoza ([136])
berichteten ähnliche Befunde zum Geschwister Kind - Verhalten wie wir sie für die
Kasseler Kolonie beschrieben haben (s. o.), sie stellten ebenso den geringen
Aufzuchtserfolg heraus. Auch ihnen gelang es nicht, Springaffen mit der Hand
aufzuziehen.26
Die enge Partnerbindung bei Springaffen-Paaren ließ Mason ebenfalls
experimentell untersuchen ([55]). Partnerpräferenzen bleiben auch bei mehrtägiger
Trennung stabil, Männchen und Weibchen präferieren einander vor Fremden
beiderlei Geschlechts. Besonders ausgeprägt ist das Vermeidungsverhalten
bei Weibchen, Männchen nehmen eher Kontakt zu Fremden auf als
Weibchen.27
Zudem ließ er die Kind/Elter - und die Elter/Kind - Beziehung testen, seine
Mitarbeiter trennten hierzu das Kind, den Vater oder die Mutter für kurze Zeit ab.
Für Springaffenmütter war nur die Separation des Vaters äußerst belastend
([89])28.
Mason ließ auch die Stresshormonwerte testen. Eigentlich nicht unerwartet stellte
sich heraus, dass das Kind eine besondere Bindung zu dem Vater entwickelt
([134])29,
dass es aber eine Elter/Kind - Bindung bei Springaffen offensichtlich nicht
gibt ([137]). Seine grundlegenden Erkenntnisse zum Bindungsverhalten
der Springaffen publizierte er 1998 gemeinsam mit Sally P.
Mendoza.30
Hier belegte er auch die fehlende Elter/Kind -
Bindung.31
Zum Abschluss dieses Kapitels möchte in noch von meiner Springaffen - Tochter Lucia
berichten. Lucia, eine weitere Tochter von Gantt und Lynn, wurde am 16.03.1981
geboren und von ihren Eltern auch angenommen und aufgezogen. Am Abend
des 21.05.1981 fand ich jedoch bei meinem Abendrundgang Lucia in einem
erbarmungswürdigen Zustand vor, sie saß zusammengekauert und hilflos auf einer
unteren Stange des Klettergerüstes, ihre Eltern zeigten kein Interesse, ihr baldiger Tod
war vorgezeichnet. Ich nahm die Kleine in die Hand und steckte sie unter
mein Hemd, Lucia hielt sich gleich fest und nahm dann auch die dargeboten
Ersatznahrung (Säuglingsmilch) an. Sie begleitete mich dann Tag und Nacht
und schien mit dem Leben zufrieden zu sein. Von anderen (erfolgreichen)
Handaufzuchten wußte ich schon, dass nachts keine Gefahr besteht, den kleinen Affen
unbeabsichtigt zu erdrücken. Sorge bereitete mir nur, dass ich Lucia bald allein
zurücklassen müsste, da ich unbedingt zu einer sehr wichtigen Tagung des
Schwerpunktprogrammes „Verhaltensontogenie und Verhaltensgenetik“ der DFG nach
Tutzing musste. Diese Tagungen waren immer sehr lehrreich und fanden in
angenehmer Atmosphäre direkt am Starnberger See statt. Meine Teilnahme war
aber zwingend, da meine Forschungsarbeiten durch das Programm gefördert
wurden und man Rechenschaft ablegen musste. Diese Tagung war zudem eine
der zweijährigen „Bewilligungstagungen“. Hier entschied sich, ob ich meine
wissenschaftliche Mitarbeiterin und meine studentischen Hilfskräfte weiter
beschäftigen könnte. Da Lucia unter meiner Jacke unauffällig und still war, nahm ich
sie zu dieser Tagung, vom 01. - 04. Juni 1981, mit. Ich hatte aber nicht bedacht,
dass Lucia nun - im dritten Lebensmonat - artgemäß lokomotorisch aktiver
werden würde. Bereits bei dem Begrüßungsabend vokalisierte sie unter meiner
Jacke, was dazu führte, dass besonders die Ornithologen unter den angereisten
Kolleginnen und Kollegen aufmerksam die Decke beobachteten, auf der Suche
nach dem vermeintlich verflogenen Vogel. An den nächsten Tagen war Lucia
nicht mehr zu verbergen, sie turnte auf mir und anderen Tagungsteilnehmern
herum. Während meines Vortrages zum Thema „Die Sozialstruktur von Cebus
apella und Macaca fascicularis, ein Vergleich“ blieb sie auf dem Schoß eines
der Gutachter. Lucia war der Star der Tagung. Diese war auch für meine
Forschungsarbeiten von großem Erfolg. Es war das erste und das letzte Mal, dass
mein Antrag ungekürzt genehmigt wurde. „Das Futtergeld .... für den kleinen
Affen, die studentischen Hilfskräfte .... für den kleinen Affen“ dies mögen die
Gedanken gewesen sein, die die Gutachter bei ihrer Entscheidung beeinflusst
hatten.
Mit zunehmendem Alter des Jungtieres konnte ich dann Lucia nicht mehr täglich
mitnehmen, sie wohnte in einem Vogelkäfig auf dem Kühlschrank unserer Wohnküche
und war ein weiterer willkommener Spielpartner meiner Kinder. Lucia war aber wohl
nicht gerne in der Küche allein. Waren wir in der Wohnung anwesend (aber
nicht in der Küche), rief sie uns mit lauten Rufen herbei und ließ sich dann
gerne herumtragen. War der Krach in der Küche zu groß, versteckte sie sich
unter Zeitungspapier. Sie erweckte niemals den Eindruck eines empfindlichen
Hausgenossen.
Anfang 1985, nach der Fertigstellung des Neubaus der Primatenstation, war es dann mit der Privathaltung vorbei. Wir vergesellschafteten Lucia mit Aurelia, einer am 27.03.1981 geborenen Tochter von Tarzan und Linda. Lucia vertrug sich mit der gleichalten Aurelia, zeigte keine Anzeichen abnormen Verhaltens und bewegte sich sicher im Käfig. Sie schien ein normaler Springaffe zu sein.32 Insofern riskierten wir eineinhalb Jahre später die Verpaarung mit einem Männchen. Das auserwählte Männchen Nino, geb. am 01.07.1983, war bereits ein Kind der dritten Generation in Menschenobhut, sein Vater Nick, geb. am 19.10.1978, war ein Sohn von Shelby und Jeanette, seine Mutter Nora, geb. am 11.09.1978, eine Tochter von Ed und Milly. Am 06.06.1986 haben wir Nino mit Lucia verpaart, Nino war knapp drei Jahre, Lucia gut fünf Jahre alt. Bereits am 07.12.1986 belegte ein 70 g schweres nicht aufgezogenes Weibchen die Zuchtfähigkeit. Am 10.03.1988 wurden dann Michael und am 02.08.89 Ramon geboren und auch aufgezogen. Lucia hatte uns also zwei männliche Nachkommen geschenkt. Michael bewährte sich auch später noch als Zuchtmännchen und machte Lucia zur Großmutter. Was aus unseren Springaffen geworden ist, weiß ich nicht (und will es auch nicht wissen). Da auch die Mason - Kolonie in Davis aufgelöst wurde, wird die jahrzehntelange Haltung des Springaffen in Menschenobhut Vergangenheit sein.
3Der lateinische Name Chrysothrix Kaup, 1835 war im 19. Jahrhundet der übliche Name für den Totenkopfaffen Saimiri Voigt, 1831 [87].
4Der lateinische Name Callithrix war damals der gängige Name für den Springaffen, er wurde später den Weißbüschelaffen (vgl. Kapitel 6) zugesprochen, die Springaffen erhielten den Gattungsnamen Callicebus Thomas, 1903 [87].
5Der lateinische Name Nyctipithecus Spix, 1823 galt lange als die richtige Bezeichnung für den Nachtaffen, sie wurde später durch den Namen Aotes Humboldt, 1811 bzw. Aotus Illiger, 1811 ersetzt [87].
6Forbes verdanken wir auch eine erste „realistischere“ Abbildung eines Springaffen, die zwar eindeutig nicht nach lebenden Tieren angefertigt wurde, dennoch aber gewisse Ähnlichkeiten erkennen lässt.
7Totenkopfaffen, vgl. Kapitel 11
8Klammeraffen
9Kapuzineraffen, vgl. Kapitel 13
10Macavahu, viudita und Trauernde Witwe sind unterschiedliche Bezeichnungen für den Witwenaffen.
11Der Name Aotinae hatte den Namen Nyctipithecinae ersetzt, nur gehörten die Totenkopfaffen dieser Unterfamilie nicht mehr an, der deutsche Name „Springaffe“ blieb freilich erhalten.
12Die Jäger oder Sammler hatten wohl eine Geschlechtsbestimmung unterlassen. Das Tragtier dürfte in der Regel der Vater gewesen sein.
13Diese Arbeit von Pocock wurde - wohl ungelesen - dann auch als Beleg für die Validität der Unterfamilie Aotinae mit Aotus und Callicebus angeführt, was wiederum zeigt, dass man niemals eine Arbeit zitieren sollte, die man nicht gelesen hat.
14In der neuesten Bearbeitung der Primates ([141]) werden alle Unterarten des Springaffen als eigene Arten beschrieben, eine Auffassung, der ich mich nicht anschließen kann. Folgten wir dieser Annahme, dann wären unsere Springaffen Artenhybride (und dies über mehrere Generationen (!)), was der Vorstellung, eine Art sei eine exklusive Reproduktionsgemeinschaft, völlig widerspricht, doch mag es (vgl. Kapitel 6) aus Gründen der Arterhaltungs - Diskussion Argumente geben, den einzelnen Varietäten den Artenstatus zuzuerkennen.
15William A. Mason beobachtete seine Springaffen, nach Hershkovitz 1963 ([75]) bestimmt als Callicebus moloch ornatus, elf Monate lang in Kolumbien. Man kann ihn zurecht als den Pionier der Feldforschungen an Springaffen bezeichnen.
16“The general impression received when working with new arrivals is that they become severely depressed. The first signs that an animal is in trouble are behavioural. The monkey sits in the perch in a hunched-over posture. It becomes increasingly selective about its food and may eat only one of the various items that are offered, ... even animals arriving in apparently good health may show rapid deterioration during the first few weeks in quarantine.„ ([125], Seite 169)
17„... my aim at this point is simply to provide a remember that species differences in social grouping patterns are real and pervasive.“ ([133], Seite 426.) ... „Two kinds of questions have been asked about differences in social structure. ... what useful purpose a particular grouping pattern serves. ... how a particular grouping pattern is actually achieved. Through what social processes do members of a primate group create and maintain the social system in which they live?“ ([133], Seiten 426 - 427). ... „In species in which high intersexual attraction in combined with low attraction within sexes, a tendency toward monogamous units can be expected. Other variations on this basic theme are easy to imagine. The important point is that even rather subtle differences in the pattern of attractions can have large effects on social organization.“ ([133], Seiten 438 - 439).
18Die meisten der toten Jungtiere überlebten zwar die Geburt und wurden auf dem Käfigboden noch lebend gefunden, Handaufzuchtsversuche scheiterten bei dieser Art. Nach meiner Einschätzung waren für die Jungenmortalität das ursprüngliche Aufzuchtsverhalten verantwortlich. Zudem fehlt den Springaffen die Verhaltensmöglichkeit ihr Junges vom Boden aufzunehmen. Sie springen zwar herbei, doch muss das Jungtier dann von sich aus an ihnen hochklettern.
19Cornelia Steiner: Zur zeitlichen Verteilung des Verhaltens beim Springaffen Callicebus moloch (Cebidae, Platyrrhina). Wissenschaftliche Hausarbeit. Gesamthochschule Kassel, 13. September 1978.
Elke Erbe-Grünkorn: Zur spontanen lokomotorischen Aktivität des Springaffen Callicebus moloch (Cebidae, Platyrrhina). Wissenschaftliche Hausarbeit. Gesamthochschule Kassel, 14. September 1978.
20Reina war sozusagen der Engel für unsere Springaffen.
21Zudem hatte ich den Eindruck, dass der Tod eines Tieres alle Insassen des Haltungsraumes „belastet“, dies wollten wir den übrigen Affen ersparen.
22Reina starb am 07.05.1997, siebzehneinhalb Jahre alt. Leider hatten wir für sie nie ein geeignetes Männchen. Wir hielten sie anfänglich allein, vergesellschafteten sie später mit dem Springtamarin-Männchen Jersey (vgl. Kapitel 8) und nach dessen Tod mit einem weiteren Springaffenweibchen.
23Ein Indiz für das Nichtharmonieren ist auch das Auftreten von Durchfall bei einem der Paarpartner. In solchen Fällen haben wir konsequent den Verpaarungsversuch abgebrochen, ist doch der Durchfall das Anzeichen für das psychische Leiden von Springaffen. In der Literatur findet man auch Bilder von Springaffen, denen ich bereits das baldige Lebensende vorhersagen kann. (Hill (1960) Plate IV ([87]) oder Sanderson und Steinbacher(1957), Abb. 24 ([180]), die Schwänze verraten die Durchfallerkrankung.)
24Zum Trageverhalten und zur Reproduktionsbiologie des Springaffen liegen auch weitere Arbeiten aus Kassel vor ([103], [105]).
25Konkret möchte ich hier eigene Beobachtungen an einer der Familiengruppen berichten. Den Vater Pal und die Mutter Laurie habe ich bereits oben angeführt. Die Tochter Tina wurde am 18.03.1978 geboren, die Tochter Nelia am 05.02.1979, Tina war zum Zeitpunkt der Geburt knapp ein Jahr alt.
Am 32. Lebenstag protokollierte ich: Nelia klettert auf Tina und schreit, Tina springt aufgeregt hin und her. Nelia schreit ständig. Tina fängt an selber zu schreien. Tina springt zu Laurie, Laurie beißt Tina ins Fell und hält sie am Kopf fest. Tina springt mit dem Jungen auf dem Rücken ab, woraufhin Laurie Tina am Schwanz zieht. Pal springt zu Laurie, droht ihr, springt dann zu Tina. Nelia klettert zu Pal, wobei Pal sie aktiv unterstützt. Auf dem Rücken von Pal beruhigt sich das Junge sofort.
Am 33. Lebenstag: Nelia klettert zu Tina, schreit dabei heftig. Tina fängt ebenfalls an zu schreien und beißt Nelia in den Schwanz. Tina klettert zu Laurie, beißt Nelia wieder in den Schwanz. Laurie beobachtet Tina und schlägt ihr mit einer Hand in das Gesicht. Tina zuckt zusammen. Tina sucht die Nähe von Pal, wohl um das Junge abzugeben. Anfangs beachtet das Männchen beide Töchter nicht. Pal springt selber zu Tina, diese rückt nahe an ihn heran. Das Junge versucht nicht, zu Pal zu klettern. Laurie springt zu Tina, greift mit beiden Händen nach dem Kopf von Nelia und schmatzt. Nelia klettert daraufhin auf Laurie und saugt.
Am 35. Lebenstag: Tina übernimmt das Junge von Pal, woraufhin Nelia sofort zu schreien beginnt. Tina springt hin und her. Laurie schlägt sie in das Gesicht und zieht sie am Schwanz. Pal springt zu Tina. Nelia klettert zu ihm herüber und hört auf, Stimmfühlungslaute von sich zu geben.
Am 58. Lebenstag: Nelia liegt auf Tina, beide schreien. Tina beißt das Junge. Laurie eilt herbei, beißt Tina und droht ihr. Nelia klettert auf den herbeispringenden Pal und hört auf zu schreien.
26„We have not successfully raised titi monkeys on cloth surrogates, although we have had considerable experience and success doing so with squirrel monkeys.“([136], Seite 718).
27„In addition to a specific preference for the pairmate, titi monkeys tend toward exclusivity, reflected in a reluctance to approach and interact with strangers, even when they are the only companions available.“ ([137], Seiten 770 - 771).
28„Maternal rejection increased during the infant-with-female condition, ... , during which the majority of rejections (34 of 41) were observed.“ ([89], Seite 403).
29„Separating an infant from its father elicits significant elevations of cortisol and increases in distress vocalization, even when the mother is present, whereas these measures do not change if the infant is separated from its mother while it remains with its father. ([134], Seite 717).
30„A more subtle natural example of openness is the emergence of the father as the primary attachment figure of infant titi monkeys, in spite of the mother’s essential nutritional contribution to the infant’s welfare. ... If the infant is anxious or aroused, as it usually is during testing, it strongly prefers the attachment figure. .... Many studies, ..... , have demonstrated that physiological and behavioral indices of stress (vocalization, heart rate, cortisol) are reduced by the presence of an attachment figure in novel situation.“ ([137], Seiten 767 - 768).
31„The distinction between parental bonding and parental competence is illustrated in a different way by our studies of the biparental system of titi monkeys. .... At the same time, neither parent shows unequivocal evidence of forming a specific attachment to their infants ..... Parents do not resist when an infant is removed for weighing or testing; they show no behavioral signs of agitation or distress when they are separated from it, and their cortisol concentrations do not change (as they do when they are separated from each other). Although they are attracted to infants and will retrieve them, they show no preference for their own infant over strangers of the same age in choice tests. ..... the parents do not differ in any measure of attachment that we have examined. In contrast, their infants show clear indications of distinguishing between their parents and of forming a specific attachment to their fathers.“ ([137], Seite 768).
32Unterstellen wir prägungsähnliche Phänomene bei Primaten, dann mag Lucia schon im Alter von zwei Wochen zum Springaffen geprägt worden sein.